Entstehungsgeschichte der Neuen Stadt Wulfen / Rudolf Plümpe
Dieser Text des Dorstener Chefredakteurs erschien 1999 in der Sonderbeilage "50 Jahre RUHR-NACHRICHTEN".
Von dem um 2005 verstorbenen Rudolf Plümpe stammt außerdem eine sehr informative neunteilige Zeitungsserie "Neu-Wulfen : Von der Modellstadt zum Stadtteil" in den Ruhrnachrichten (Lokalausgabe Dorsten), 27.12.1989 bis 16.02.1990
Entstehungsgeschichte der Neuen Stadt Wulfen
Die Entstehung der neuen Stadt Wulfen war das größte kommunale Ereignis Dorstens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Entstehungsgeschichte der Neuen Stadt Wulfen beginnt mit der Kohle. Die Zechengesellschaft Mathias Stinnes AG wollte angesichts ihrer langsam zu Ende gehenden Kohlereserven das "schwarze Gold" aus den reichhaltigen Lagerstätten in Wulfen gewinnen. Dazu brauchte man Arbeitskräfte, also bestand Wohnraumbedarf.
Die Größenordnung richtete sich nach den veranschlagten Zahlen: Es sollte eine Großschachtanlage mit 12 000 Tagestonnen ververtbarer Forderung werden. Die dazu erforderliche Belegschaft hatten die Stinnes AG und der damals für Landesplanung zuständige Ruhrsiedlungsverband mit 5 000 Mitarbeitern eingeschätzt, einschließlich der Familien rund 20 000 Bewohner. Dazu ein bisschen Landwirtschaft, so genannte Ausgleichsindustrie und Dienstleistungsberufe ergaben unterm Strich 50 000 Einwohner. Um dafür Wohnraum zu schaffen, wurde Neu-Wulfen geplant.
Allerdings standen solche Überlegungen, noch bevor sie konkreter wurden, vor einem zwiespältig-widersprüchlichen Hintergrund. Auf der einen Seite Bevölkerungszunahme des Reviers rnit verstärkter Randwanderung aus den Großstädten in Richtung Norden und allgemein günstige Entwicklung der Wirtschaft - auf der anderen Seite seit 1957 Strukturwandel bei der Steinkohle mit anhaltender Absatzkrise. Trotzdem wird mit einem - seinerzeit auch sicher berechtigten - Optimismus an der Stinnesplanung mit ihren städtebaulichen Folgen festgehaiten.
Ein interessantes Zeitdokument, das "Sonderheft Wulfen" der Stinnes-Betriebe, spiegelt die damalige Stimmungslage eindruckvoll wider. Das Titelfoto des Heftes zeigt Bundeswirtschaftsminister und Vizekanzler Ludwig Erhard, eingerahmt von NRW-Minister Kohlhaase und Generaldirektor Kemper auf dem Weg zur Besichtigung der Abteufanlage. lm Texteil ist die Rede vom 23. Juni 1958, der mit ehernen Lettern in die Geschichte der Bergwerksgesellschaft eingetragen werde und auch in die Annalen des westdeutschen Steinkohlenbergbaus als der Tag, an dem erstmalig nach dem 2. Weltkrieg wieder ein erster Spatenstich zu einer Großschachtanlage vollzogen urrd der erste Bergekübel zu Tage gebracht wurde.
Es war sehr feierlich: Fahnen schmückten die Einfahrt von der B 58 zum Zechengelände und unter den Ehrengästen sah man Cläre Hugo Stinnes-Wagenknecht, Bischof Keller aus Münster, IGBE-Chef Gutermuth, Amtsbürgermeister Hatkämper und Wulfens Bürgermeister J. Schonebeck. ln der Begrüßungsansprache von Bergassessor Röcken hört man einen ersten vagen Hinweis auf die kommende Stadt. Nachdem er technische Details des Abteufens erläutert hatte, betonte er: "Dass wir aber auch an die Probleme herangehen, die durch die zu erwartende Unterbringung von rund 8 000 Mann Belegschaft mit ihren Familien entstehen, darf ich lhnen versichern. Wir werden uns auch dabei von den modernsten Erkenntnissen leiten lassen, allen Anforderungen gerecht zu werden."
lm Vordergrund aller Festansprachen stand der Gedanke, dass die deutsche Kohle die Grundlage fur die deutsche Energieversorgung sein muss. Ludwig Erhard verbreitete Hoffnung und Zuversicht. Aber die dunklen Wolken am Horizont der deutschen Kohle verdichteten sich.
Georg Wittwer hat es 1980 in dem Buch "Das andere Wohnen" kurz und bündig so
formuliert: "Die in den 60er Jahren abnehmende Bedeutung der Kohle führte praktisch
zum Entzug der wirtschaftlichen Entwicklungsbasis."
Das sah sein Vorgänger im Amt der Geschäftsfuhiung der Entwicklungsgesellschaft
Wulfen - Erich Zahn - ganz anders. Er konnte im Meinungsstreit um die Frage "Neu-
Wulfen nur Bergbaustadt oder zusätzlich noch etwas anderes?", auf ein Gutachten
aus dem Jahre 1963 verweisen. Darin hatte einer der besten Kenner der
Landesplanung - Dr. K.H. Tietzsch - untersucht, welche Auswirkungen auf die Stadtentwicklung
bei normalem, zügigem Aufbau der Schachtanlage auftreten würden, welche bei
großen Unterbrechungen, aber auch bei völligem Ausfall des Bergbaues. Darum
ging es 1967 bei den vielzitierten Baustoppanträgen im Wulfener Gemeinderat.
Dahinter verbirgt sich das Problem, ob die Neue Stadt Wulfen in Kenntnis des Wegfalls
der Hauptarbeitsstätte Schachtanlage rechtzeitig auf "eine Nummer kleiner" hätte
gepolt werden können. Eine Frage, die letzten Endes unbeantwortet geblieben ist.
Dann kam es 1960 trotz aller Widersprüche und Bedenken zur Gründung der
Entwicklungsgesellschaft Wulfen (EW), deren Gesellschafter zunächst die Stinnes AG,
der Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk, Landkreis Recklinghausen und das Amt
Hervest-Dorsten waren. Später traten die Gemeinden Wulfen und Lembeck sowie
die Westdeutsche Landesbank hinzu. Eine solche Gesellschaft - so erwartete man
jedenfalls - war als Träger der Stadtentwicklung geeigneter als eine behördliche lnstitution.
Gleich nach ihrer Gründung hatte die EW zwei große Aufgaben zu erledigen. 1. An-
kauf der Grundstücke für das Stadtareal, 2. Organisation des städtebaulichen ldeenwettbewerbs.
Häufigste Vertragspartner bei den Grundstückskäufen waren Landwirte, die anderswo Ersatzhöfe bekamen.
Den internationalen städtebaulichen ldeenwettbewerb gewann Prof. Fritz Eggeling,
Berlin, der seinen preisgekrönten Entwurf wie folgt erläuterte:
Eine neue Stadt zu planen in einer so wunderbaren, von der zukünftigen Bestimmung
kaum angetasteten Landschaft wie in Wulfen, sei eine seltene Aufgabe. Die
zukünftige Stadt Wulfen als Ganzes erlebbar zu machen und in ihren Teilen aus der
Einheit zu entwickeln, sei der Grundgedanke des Entwurfs. Er sei der Ansicht, dass
die Stadt in ihrer Größenordnung von 50 000 Einwohnern ein überschaubarer
Erlebnisbereich sei. ln ihrer rings von herrlicher Landschaft umgebenen Lage werde
die Gefahr einer städtischen Verdichtung für geringer erachtet als die der Zersiedlung.
Der 1966 verstorbene Fritz Eggeling und seine in einer Planungsgruppe zusammengefassten
Mitarbeiter wurden auch mit der weiteren städtebaulichen Planung beauftragt. So
konnte 1963 der Gesamtaufbauplan vorgelegt werden. Die ersten Wohnungen
und eine Grundschule wurden 1967 belegt.
Der Autofahrer auf der B 58 sah in den ersten Jahren immer nur die Umrisse von mehrgeschossigen Wohnungsbauten, so dass sich die Frage stellte: Wo bleibt hier eigentlich das "Häuschen im Grünen"? Die Antwort der Planer: Zunächst müsse Mietwohnungsbau den Vorrang haben, um eine bestimmte Bevölkerungszahl zu erreichen, ohne die Gemeinschaftseinrichtungen nicht tragfähig seien. Den kräftigen Schub in Richtung Eigenheim brachte "Die Deutsche Fertighausausstellung Wulfen 1970".
Die Ausstellung erwies sich als Glanzpunkt der Aufbaujahre und lockte vom 15. Mai bis zum 20. September 1970 rund 250 000 Besucher nach Wulfen. Beteiligt waren 13 Firmen mit 24 Häusern. Das lnteresse galt nicht,nur den Angeboten der Fertighausindustrie, sondern auch der Stadtentwicklung. Nun war das freistehende Einfamilienhaus - möglichst noch mit Schrebergartenidylle - nicht der Schwerpunkt des Neu-Wulfener Wohnungsbaus, vielmehr hatte das Wort "Verdichtung" hier besonderen Stellenwert. Die Veranstalter, Wohnzeitschrift "zuhause", Bundesverband Montagebau und die EW fanden eine Lösung mit einer in sich geschlossenen Einfamilienhausgruppe im StiI von Gartenhofhäusern, die sich später gut verkaufen ließen.
Und die entstehende Stadt hatte weitere städtebauliche Paradepferde zu bieten, die sie zum Mekka für Architekturstudenten werden ließen. Die Bezeichnung ,,demonstrative Versuchsbauten" deutete darauf hin, dass Risiken mit im Spiel waren. Metastadt ist hier an erster Stelle zu nennen, der Prototyp eines industriell gefertigten Montagebausystems, 1973l74 gebaut. Eine Stahlkonstruktion bildet das Tragwerk, in das die Ausbausysteme eingefügt werden. Das für variable Nutzungen konzipierte Gebäude enthält etwa 100 Wohnungen, Geschäfte, Büros und einen Kindergarten. Aber schon nach 13 Jahren musste Wulfens spektakulärster Versuchsbau abgebrochen werden. Aus der "Überstadt" (so die Übersetzung aus dem Griechischen war ein Demonstrationsobjekt für Bausünden geworden. Architekt Richard Dietrich aus München muss auf die "Saupreußen" furchtbar geschimpft haben: lndem sie Sozialen Wohnungsbau daraus machten, hätten sie den Clou des ganzen, die Flexibilität der Wohnraumaufteilung, zerstört. Dietrich soll sich schmollend in einen bayrischen Schlupfwinkel zurückgezogen haben. Dort ist er dem Vernehmen nach Anhänger des biologischen Bauens geworden.
Erst hochgelobt - dann gnadenlos runtergeputzt. Fast genauso erging es Habiflex, dem Ojekt der Gelsenkirchener Architekten Klement und Gottlob. 40 bungalowartige Wohnungen zu einem Baukörper mit offenem Treppenhaus im lnneren - das sei eine tolle ldee, bestätigten alle Architektenkollegen. Besondere Attraktion ist hier der ,,Gelsenkirchener Balkon". Er besteht aus faltbaren Türen und Fenstern, die sich auf Gleitschienen bewegen lassen. So kann der Balkon im Winter dem Wohnzimmer zugeschlagen werden. Vorausgesetzt, die Technik funktioniert. Habiflex hatte den großen ,,Schönheitsfehler", dass an vielen Stellen Wasser eindrang. So ging das Gebäude als "Tropfsteinhöhle" in die Wulfener Baugeschichte ein.
Am wenigsten spektakulär, aber dafür solide und von dauerhaftem Wert: Finnstadt, ein Projekt von Toivo Kohonen aus Helsinki. Es handelt sich um Eigentumswohnungen mit großzügigen Terrassen als Alternative zum Eigenheim.
Auch wenn hier nur punktuell auf einige Besonderheiten und herausragende Ereignisse der Stadtentstehung eingegangen wird, so sollten doch ein paar Fakten erwähnt werden, die ihr verdientermaßen das Prädikat "modellhaft" einbrachten:
- der Grünaufbau im Einklang mit der Natur
- gesonderte Fußwege, die - vor allem Kindern - Schutz vor dem Kfz-Verkehr gewährleisten
- Gemeinschaftshaus mit Freizeitbadanlage
- das ev. Gruppenpfarramt - Pfarrer, Psychologe und Pädagoge zusammen als "der Pfarrer"'
- die erste Gesamtschule der Stadt Dorsten.
Auf der Negativ-Seite standen und stehen teilweise bis heute ungelöste Probleme:
- Orientierungsschwierigkeiten: Man kann als Autofahrer nicht kurz aussteigen und einen Fußgänger nach dem Weg fragen, denn wegen des gesonderten Fußwegenetzes ist weit und breit kein Fußgänger zu sehen.
- Die Nachtstromspeicherheizung, die für das gesamt Stadtgebiet vorgeschrieben ist, erweist sich als problematisch, wenn das Geld fur die Stromrechnung fehlt.
- Vorübergehende Wohnungsleerstände, die durch politisch heftig umstrittene Beihilfen beseitigt werden sollten
- Schwerpunktartige Unterbringung von Obdachlosen (durch Anmietung leerstehender Wohnungen seitens der Stadt) könnte das Sozialgefüge der Bevölkerung aus dem Gleichgewicht bringen.
Ein Ereignis hatte für Wulfen ganz besondere Bedeutung, wobei auch die Alt-Wulfener einbezogen waren - die kommunale Neugliederung. Anfang der 70er Jahre begann der erbitterte Kampf um die Selbständigkeit und gegen die Eingemeindung zu Dorsten. Die Frage der Selbständigkeit wurde mit dem künftigen Planungsziel verknüpft. Aus der Sicht der Landesplanung war bei 20 000 bis 30 000 Einwohnern eine Eingemeindung sinnvoll, bei 50 000 wäre sie nicht zu rechtfertigen gewesen.
Die Absicht der Stadt Dorsten, Wulfen zu "vereinnahmen", kam den Vorstellungen der Landesregierung sehr gelegen, denn sie wollte sich aus der Verantwortung für das städtebauliche Modellprojekt zurückziehen, als Anfang der 80ger Jahre das Ende der Stadtgründung auf der grünen Wiese erkennbar war.
Bei der nun anstehenden Kommunalisierung zeigte sich das Land nicht mehr so spendabel wie früher, hatte es doch gerade heftige Kritik über sich ergehen lassen müssen: Die Kosten für die Stadtentwicklung und insbesondere die EW seien weit überzogen gewesen. Die Kommunalisierung der EW brachte das Problem der Weiterterbeschäftigung ihrer bisherigen Mitarbeiter. Hier fühlte sich die Stadt Dorsten in ihrer neuen Trägerfunktion besonders gefordert. Die Geschäftsführung wechselte von Dieter Finnendahl uber Karl-Heinz Nowoczin (Stadtverwaltung) zu den beiden Beigeordneten H.-D. Klink (Kaufmännisches/Grundstücksverkauf) und Jürgen Haase (technischer Bereich), die diese Funktionen nebenamtlich ubernahmen.
Die arg zusammengeschrumpfte EW ist heute im Wesentlichen eine Grundstücksverwertungsgesellschaft. Beim Veräußern der Restbestände an Bauland und Gewerbeareal kann sie ihre Aufwendungen (in erster Linie fur Erschließung) in Anrechnung bringen, während der Hauptteil der Verkaufserlöse direkt an das Land abfließt.
Zwei große Verkehrsprobleme hat die Stadt ungelöst übernommen:
- Die Verlegung der B 58, von Anfang an ein wichtiges Planungsziel, um das Zusammenwachsen von Alt- und Neuwulfen zu verbessern.
- Die Nordanbindung in Richtung Lembeck - früher ein selbstverständlicher Bestandteil des Verkehrskonzeptes. Hier gab und gibt es Probleme mit Naturschützern und Anwohnern, die Verkehrslärm befurchten.
Einwohnermäßig zum Zeitpunkt der Eingemeindung zunächst auf ein Drittel des ursprünglichen Entwicklungszieles geschrumpft, kann Neu-Wulfen laut Flächennutzungsplan in den nächsten 10 bis 15 Jahren auf rund 22 000 Einwohner wachsen. Die größte zusammenhängende Fläche für Wohnbebauung stellt das Schultenfeld dar.
Die "Neue Stadt" - zumindest die Bezeichnung gilt unverändert - ist mehr als modellhafte Stadtentwicklung. Seit dem Erstbezug von Wohnungen vor gut drei Jahrzehnten rückte der Mensch in den Vordergrund und damit die Frage, wie die Neubürger unterschiedlichster Herkunft hier Wurzeln schlagen würden, wie sie miteinander auskommen und Heimat finden.
Gleichsam exemplarisch äußert sich dazu Beigeordneter Jürgen Haase, der mit seiner
Familie in Barkenberg wohnt: Man könne in dieser schönen Landschaft sehr gut
spazieren gehen oder auch Rad fahren. Die Einkaufsmöglichkeiten seien zufrieden stellend,
ebenso das Freizeit- und Kulturangebot.
Bürgermeister Dr. Zahn geht in der Beschreibung des "Stadtteils der besonderen
Art" noch einen Schritt weiter: "Weit draußen passiert es einem immer wieder, dass
Wulfen bekannter ist als Dorsten." Was sicher damit zusammenhängt, dass vor allem
in den 70er Jahren hunderte von Besuchergruppen -selbst aus Afrika, USA, Japan
und Australien, darunter Fachleute des Städtebaus, Studenten, Journalisten
und Politiker, nach Wulfen kamen, um die Geburt einer Stadt ein wenig mitzuerleben.
Quelle: "50 Jahre RUHR-NACHRICHTEN" - Rudolf Plümpe 1999