Geschichte der Neuen Stadt Wulfen / Alfred Weiß: Unterschied zwischen den Versionen

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''Quelle: Veröffentlicht 1995 in der vom KVR herausgegebenen Foliothek Ruhrgebiet, als Begleittext zur Folie 38 Neue Stadt Wulfen
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''Quelle: Veröffentlicht 1995 in der vom KVR herausgegebenen '''Foliothek Ruhrgebiet''', als Begleittext zur Folie 38 Neue Stadt Wulfen
  
Auch veröffentlicht als Kapitel "Retortenstadt oder ganz normale Großsiedlung - Neue Stadt Wulfen" (S.242-243) im Buch "'''Vor Ort im Ruhrgebiet''' : ein geographischer Exkursionsführer / Kommunalverband Ruhrgebiet. Hrsg. Gert Duckwitz ; Manfred Hommel. Essen 1993, 3.Aufl 2002.  
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Der Text ist etwas verändert auch veröffentlicht als Kapitel "Retortenstadt oder ganz normale Großsiedlung - Neue Stadt Wulfen" im Buch "'''Vor Ort im Ruhrgebiet''' : ein geographischer Exkursionsführer / Kommunalverband Ruhrgebiet. Essen 1. Aufl. 1993 (S.208-209), 3.Aufl 2002 (S.242-243). Vorhanden in der BiBi, DEM Geo
  
 
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Version vom 09:29, 9. Feb 2024

Die „Neue Stadt Wulfen" hat als eines der wenigen städtebaulichen Großprojekte des Ruhrgebiets in den 60er und 70er Jahren große Beachtung gefunden. Die Diskussion darüber war von Beginn an kontrovers und leidenschaftlich. Die westfälisch geprägte Bevölkerung war zunächst mißtrauisch, der Rat der Gemeinde Wulfen hatte mehrmals über den Abbruch des Projektes beraten.

Wie ist es zu der Planung gekommen? In den 50er Jahren war die Kohle noch die Energiequelle Nr. 1. Der Bergbau wanderte nach Norden, erste Bohrungen nach Kohle überschritten die Lippe. In Wulfen wurde 1958 mit der Abteufung einer Schachtanlage begonnen. Zur Rekrutierung der Belegschaft und zu deren Unterbringung sollte keine klassische Bergarbeitersiedlung gebaut werden, sondern eine komplette „Neue Stadt". Die Bergwerksgesellschaft, der Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk, der Landkreis Recklinghausen und eine Großbank schlossen sich zu einer „Entwicklungsgesellschaft“ zusammen, um dieses ehrgeizige Projekt zu realisieren. Es basierte auf folgenden Überlegungen:
- Für ca. 8.000 Beschäftigte im Bergwerk (Zieljahr 1990) sowie für die notwendige Mantelbevölkerung müssen Wohnungen gebaut werden. Die Stadt soll im Endausbau 60.000 Einwohner haben. Neben dem Bergwerk sind weitere Gewerbeflächen für die notwendigen ergänzenden Betriebe zu schalten.
- Die Stadt ist in die natürliche Umgebung der münsterländischen Landschaft einzupassen.
- Alle notwendigen Infrastruktureinrichtungen sind zu erstellen. Hierunter sind neben den öffentlichen Einrichtungen wie Kindergarten, Spielplätzen, Schulen, Kultur- und Sporteinrichtungen auch Einrichtungen der privaten Infrastruktur mit Gütern des periodischen und aperiodischen Bedarfs zu verstehen.

Ein internationaler Städtebauwettbewerb wurde ausgelobt. Den ersten Preis gewann 1961 Prof. Fritz Eggeling aus Berlin. Sein städtebaulicher Entwurf wurde zur Grundlage von Planung, Grunderwerb, Erschließung und Hochbau. Folgende Besonderheiten zeichneten ihn und die nachfolgende Planung aus:
- Die Höhenentwicklung verstärkt die natürliche Topographie und berücksichtigt die vorhandenen Grünbereiche und Bachläufe.
- Ein vom Fahrverkehr getrenntes Fuß- und Radwegenetz durchzieht die Stadt und schafft damit verkehrsberuhigte Zonen.
- Zu einer Zeit, als das Wort Ökologie noch nicht zum allgemeinen Sprachschatz gehört, wird eine zusammenhängende Grünplanung zur Grundlage öffentlicher wie privater Planung.
- Zur Verminderung von Luftverschmutzung wird die elektrische Heizung zur Pflicht (Dieser damals ehrlich gemeinte Beitrag zum Umweltschutz sollte sich im Nachhinein als Irrtum herausstellen.)

Die weitere Planung war von Typenvielfalt im Wohnungsgrundriß und einer verdichteten Bauweise geprägt, die eine Abkehr von monotonen Hochhäusern schon zu Beginn der 70er Jahre aufzeigte. Mit Unterstützung des Bundes und des Landes wurde mit neuen Wohn- und Bauformen experimentiert. „Finnstadt“, „Metastadt“ und „Habiflex" waren beachtenswerte Demonstrativ-Baumaßnahmen. Sie bezeichneten einen in Deutschland einmaligen Versuch, Wohnungsgrundrisse auch nach der Beendigung der Bauphase zu variieren, Wohnungsgrößen den sich wechselnden Anforderungen der Familien anzupassen und Bausysteme zur Überspannung von Sanierungsgebieten erproben.

Durch die Krise des Bergbaus wurde dem Konzept die wirtschaftliche Basis genommen. Neue Zielvorstellungen mußten entwickelt werden. Nun ging es um die regionale Wohnbedarfsdeckung, um die Umstrukturierung des Ballungsrandes und die Entkernung des Ruhrgebiets. Die Zielvorstellungen wurden der sich verändernden Realität angepaßt: Zunächst wurde die Einwohnerzahl bei reduzierter Fläche auf 30.000 zurückgenommen und schließlich - im Rahmen der kommunalen Neugliederung - auf 20.000. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war die Idee einer „Neuen Stadt“ überholt. Mit der Eingemeindung nach Dorsten im Jahre 1975 ist Wulfen zu einer Großwohnsiedlung wie viele andere geworden. Neben Mietwohnungsbau wird - ebenfalls flächensparend - nun auch Einfamilienhausbau betrieben.

Als Mitte der 80er Jahre ein Wohnungsüberangebot in der Bundesrepublik Realität wurde, war Wulfen besonders betroffen. Annähernd 500 Wohnungen standen leer. Es kam zum Abriß der „Metastadt“ mit 101 Wohnungseinheiten und etwa 600 qm gewerblicher Nutzfläche. Für viele Medien war dies - in bekannter Vergröberung - der Abriß von Wulfen, der ungeliebten „Retorten- oder Reißbrettstadt“. Über die übrigen rund 4.400 Wohnungseinheiten in gutem ökologischen Umfeld wurde nicht berichtet.

1987 wurde die Entwicklungsgesellschaft in ihrer Planungstätigkeit stark eingeschränkt. Das Land Nordrhein-Westfalen stellte die Förderung von Wulfen ein. Das Projekt wurde kommunalisiert. Wulfen ist damit endgültig ein ganz normaler Stadtteil geworden. Zusammen mit Alt-Wulfen, der ehemaligen Landgemeinde, die im Sog der Entwicklung der Neuen Stadt auf 5.000 Einwohner gewachsen war, bildete es 1992 mit 17.000 Einwohnern den größten Stadtteil von Dorsten mit insgesamt etwa 80.000 Einwohnern.

Die Wohnumfeldbedingungen sind als gut anzusehen. Notwendige Infrastruktureinrichtungen wurden großzügig durch das Land bezuschußt und z.T. beispielhaft errichtet. Hierzu gehören u.a. neben einer Gesamtschule mit integrierter Schul- und Stadtbibliothek ein Gemeinschaftshaus mit Freizeitbadanlage. Die sozialen Probleme haben sich im Laufe der Jahre normalisiert. Besonderheiten negativer Art werden immer weniger registriert.
Hinsichtlich der Entwicklung von Arbeitsplätzen wurden die planerischen Ziele der 70er Jahre nicht erreicht. Weder die Ausweisung von Gewerbeflächen - hier entstand der erste Gewerbepark - noch die ursprünglich geplante Bevölkerungszahl von 60.000 Einwohnern lösten automatisch eine Gewerbeansiedlung aus, Die Strukturkrise des Ruhrgebiets machte vor Wulfen nicht Halt. Glücklicherweise liegt die Hüls AG mit ca. 15.000 Arbeitsplätzen in 7 km Entfernung in der Nachbarstadt Marl.

Zusammenfassend ist festzuhalten, daß weder Reißbrett noch Retorte das Leben in Wulfen heute bestimmen. Normalität - und die ist schwer genug - ist angesagt. Etwa 4.500 Wohnungseinheiten sind bisher gebaut. Die Zahl nimmt ganz langsam zu. Wulfen hat seine Bedeutung für die Region. Wer kann einschätzen, um wie viel mehr Dörfer des angrenzenden Münsterlandes durch Einfamilienhausviertel aufgebläht worden wären, gäbe es nicht diese architektonisch ansprechende und planerisch durchdachte ehemalige "Neue Stadt" am Nordrand des Ruhrgebiets?

Alfred Weiß (1993)


Quelle: Veröffentlicht 1995 in der vom KVR herausgegebenen Foliothek Ruhrgebiet, als Begleittext zur Folie 38 Neue Stadt Wulfen

Der Text ist etwas verändert auch veröffentlicht als Kapitel "Retortenstadt oder ganz normale Großsiedlung - Neue Stadt Wulfen" im Buch "Vor Ort im Ruhrgebiet : ein geographischer Exkursionsführer / Kommunalverband Ruhrgebiet. Essen 1. Aufl. 1993 (S.208-209), 3.Aufl 2002 (S.242-243). Vorhanden in der BiBi, DEM Geo

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