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Familie Moises

5.614 Bytes hinzugefügt, 22:40, 17. Jan 2014
Rede des Bürgermeisters
Jüdischen Kultusgemeinde Kreis Recklinghausen, ein Gebet für die jüdischen
Familien Moises und Lebenstein sprechen.
 
==Rede von Bürgermeister Lütkenhorst==
 
Manchmal fährt man achtlos vorbei auch an Orten der Erinnerung. So ging es mir häufiger
wenn ich von Hervest-Dorsten durch das Gewerbegebiet Wulfen Richtung Lembeck fahre.
Der kürzeste Weg vorbei an der Koppel. Den Ort einfach links liegengelassen.
In den letzten Tagen, meine Damen und Herren, liebe Gäste,
habe ich angehalten an der Koppel. Ganz bewusst und habe mir Zeit genommen für diesen
Ort der Erinnerung.
Ein kleiner jüdischer Friedhof, fast vergessen, oft links liegengelassen, nicht nur von mir. Der
Familienfriedhof der Familie Moises. Drei Kindergräber, acht Erwachsenengräber. Ich habe
mir Zeit genommen, auch als Vorbereitung für den heutigen Sonntagmorgen hier in Wulfen
am Gebäude der Sparkasse.
Ich habe nach Namen gesucht. Einige gar nicht, andere kaum noch lesbar. Wer ist dort
bestattet? Wer hat hier wen bestattet? Wer hat hier seine Ruhe gefunden? Namenlose
Gräber, fast aus der Erinnerung verschwunden.
„Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein. Ein Hoffnungswert
hineingesprochen in die Wüstensituation des Volkes Israel. Hineingesprochen in eine Zeit der
Verwirrungen, der Entbehrungen. Wüstenerfahrung“.
Dieser trostreiche Satz fiel mir ein, angesichts der Namenlosigkeit auf diesem kleinen
jüdischen Friedhof an der Koppel. Bei Gott haben wir alle einen guten Namen, niemand ist
namenlos. Das ist unser Glaube.
Damit die, die dort ruhen, bei uns in Dorsten und hier in Wulfen einen guten Namen
behalten, dafür sind wir hier, dafür erinnern wir uns heute.
Meine Damen und Herren,
ich denk, es wird unsere Aufgabe sein, dass diejenigen, die auf diesem kleinen Friedhof an
der Koppel in Wulfen beerdigt worden sind, nicht namenlos bleiben, sondern wir ihnen in
den nächsten Monaten ihren Namen zurückgeben und diese dort auf dem Friedhof auch
bekannt halten.
 
Wir erinnern uns: Sie lebten unter uns, ganz normale Nachbarn. Im Heimatverein, im
Schützenverein. Gingen ihrer Arbeit nach. Bürger wie du und ich würde man vielleicht heute
sagen.
Dann die Spaltung dieser dörflichen Gemeinschaft in Täter und Opfer. Systematisch, also
nicht zufällig oder ungewollt, sondern mit System, begann die Diskriminierung, die
Aussonderung, die Ausrottung. Man hat seine jüdischen Nachbarn offen verhöhnt, zutiefst
gedemütigt und brutal totgeschlagen. Man?
Die Täter waren konkrete Menschen, Adressen, Nachbarn, Mitmenschen, Vereinsmitglieder.
Die ganz normalen guten Bürger, bei denen die Botschaft eines furchtbaren
menschenvernichtenden Systems angekommen war: Wir unterscheiden Menschen zwischen
lebenswert und lebensunwert. Zwischen Menschen und Untermenschen. Zwischen
Herrenrasse und Sklaven.
 
Und heute, am Tag der Erinnerung an die Familie Moises, wieder die schlimme Erkenntnis.
Die Täter haben ohne erkennbar schlechtes Gewissen gehandelt.
Meine Mutter berichtet aus einer Gladbecker Familie, die sich aus dem Fester schauend die
Übergriffe auf die jüdische Familie in der Nachbarschaft angesehen hat. Fast wie ein
Fernsehstück. Und sich dann abends gemeinsam zum Abendessen im Wohnzimmer
versammelt haben. Moralische Kategorien wie Gut und Böse, wie Nachbarn und
Freundschaft: Vollständig verdreht.
In den letzten Jahren war ich häufig auch mit Jugendgruppen im Konzentrationslager in
Auschwitz, manchmal auch in Verbindung mit Besuchen in unserer Partnerstadt in Rybnik.
Wenn man in eines dieser ehemaligen Lagerhäuser geht, fällt folgender Spruch ins Auge:
„Derjenige, der sich nicht erinnert an die Geschichte, ist dazu bestimmt, sie erneut erleben
zu müssen“.
Und wenn man in dem Dokumentationszentrum sieht, wie ein deutscher Justizminister in der
NS-Zeit mit Blick auf die Opfer, die Juden, die Christen, die Polen und die Andersgläubigen
von Ratten reden konnte, die ausgerottet werden müssen, dann kann man erahnen in
welcher Stimmung auch die Familie Moises hier in Wulfen gelebt haben muss.
Natürlich waren nicht alle Täter. Natürlich waren nicht alle Mitläufer. Es gibt auch diejenigen,
die sich widersetzt haben.
Ich erinnere daran, dass in Münster Kardinal von Galen deutlich seine Stimme erhoben hat.
Ich erinnere daran, dass Christen in ganz Deutschland, seien sie in der evangelischen oder in
der katholischen Kirche gewesen, ihre Stimme erhoben haben und dafür auch ihr Leben
gelassen haben.
 
Auch deswegen ist der heutige Tag ein wichtiger Erinnerungstag. Deswegen bin ich sehr
dankbar, dass der Heimatverein Wulfen sich der Erinnerung an die Familie Moises
angenommen hat. Sie waren Mitglieder des Heimatvereins, sie waren Mitglieder des
Schützenvereins. Die Familien Moises waren Teil der Wulfener Gesellschaft.
 
Danke an die Sparkasse, dass es möglich war diese Tafel, die nun ein Teil der
Erinnerungskultur in unserer Stadt ist, an dieser Stelle anzubringen.
Meine Damen und Herren, liebe Gäste,
Erinnerung ist das Eine, Verpflichtung ist das Andere. Verpflichtung, Augen offen zu haben für
Tendenzen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Die NSU-Morde zeigen deutlich, dass es
diesen Rassismus in fürchterlicher Form auch jetzt und heute in unserem Land gibt.
Ich danke allen, insbesondere den jungen Menschen, die in unserer Stadt daran
mitarbeiten, eine Kultur der Erinnerung und eine Kultur der Toleranz zu pflegen.
Menschen, die eingebunden sind, in eine Kultur des Nein-Sagens gegen
Menschenrechtsverachtung und Fremdenfeindlichkeit.
 
Meine Damen und Herren, liebe Gäste,
sie alle, die sich heute erinnern, sie alle, die „Nein“ sagen, sie alle, die sich einbringen, sie alle
wirken mit an eine besseren Stadt Dorsten.
Herzlichen Dank dafür.
==El Male Rachamim==
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